Wer vor Ort große Junge im Nest beobachtet, wird bald bemerken, dass das Verhalten der Heranwachsenden bereits viele Sekunden vorher das Erscheinen eines Elterntieres zur Fütterung ankündigt. Von ihrer hohen Warte aus können sie ein weites Feld überblicken und damit natürlich das Anfliegen eines Altstorches mit Futter im Extremfall fast eine Minute vor seiner Landung im Nest erkennen. Lagen die Jungen vorher mehr oder weniger teilnahmslos und still im Horst, werden sie - sobald sie den Futterbringer entdeckt haben - deutlich unruhiger. Sie stehen auch auf, fallen wieder in den Fersensitz, schlagen heftig mit den Flügeln, spreizen die Schwanzfedern und rutschen zur Horstmitte. Das alles wird dazu noch von einem weithin hörbaren Fauchen und Kreischen begleitet. Obwohl der anfliegende Altstorch bei einer Entfernung von mehreren Hundert Metern nur als winziger Punkt erscheint, liefert dieser Punkt den Jungen so viel Information, dass sie ihn als Elternvogel erkennen. Nähert sich in gleicher Weise ein Fremdstorch, wäre das Verhalten total anders und die Jungen würden in Akinese fallen (d.h. sie würden sich tot stellen). Das bedeutet, dass nicht nur die Jungen ihre Eltern erkennen - das ist sicher nicht ganz verkehrt - sondern auch, dass sich die Elterntiere aus einer großen Schar von Artgenossen individuell erkennen, dieses Kennen auch abgespeichert werden kann und über Wochen, Monate und sicher auch Jahre gespeichert bleibt. Ob dieses Erkennen auch in den Folgejahren bei der Paarbildung eine große Rolle spielt, kann individuell durchaus von Bedeutung sein. Die hohe Zahl an Partnerwechseln in aufeinander folgenden Brutjahren scheint jedoch eher dafür zu sprechen, dass in den meisten Fällen die Partner eines Paares im nächsten Brutjahr zwar wieder das gleiche Nest ansteuern, es sich dann aber entscheidet, ob dieses bereits besetzt ist und ob man sich dann gegen den oder die Neue durchsetzen kann. Gelingt dies nicht, wird ein anderer Horst - der meist nicht sehr weit entfernt liegt - angesteuert und das Glück dort versucht. Ein Warten eines Partners auf seinen "Alten" mag vorkommen, ist aber nicht die Regel. Im Jahre 1999 verletzte sich ein Altstorch des Weiltinger Paares (10 Kilometer von Dinkelsbühl entfernt) während der Aufzuchtphase. Das einzige Junge im Nest - es war bereits 4 Wochen alt - wurde vom verbliebenen Weibchen mühelos alleine versorgt. Papa Storch verbrachte vierzehn Tage in einer Pflegestation. In dieser Zeit konnten sich die Partner nicht sehen. Als der Storchenmann nach der Pflegezeit wieder in Horstnähe freigelassen wurde und zunächst nur mühsam aufflog, erschien wie aus heiterem Himmel das dazugehörige Weibchen - es war zu diesem Zeitpunkt in der Nähe auf Nahrungssuche - und beide flogen gemeinsam zum Nest und landeten dort unter heftigem Begrüßungsklappern, so als ob keine Trennung stattgefunden hätte. Wäre ein fremdes Männchen an der gleichen Stelle aufgetaucht oder freigelassen worden, hätte es mit Sicherheit eine äußerst aggressive Reaktion des Weibchens gegeben. Woran sich nun Störche erkennen, muss hier offen bleiben. Die hohe Auflösung des Vogelauges lässt aber mit Sicherheit Details auch aus großer Entfernung erkennen und bedeutsam hervortreten, die für menschliche Augen nicht wahrnehmbar sind. Dass heuer auch an unserem Nest in Dinkelsbühl ein Partnerwechsel stattgefunden hat, ist als erster Tagebucheintrag am 23. März vermerkt. Mit Sicherheit brütet heuer ein anderes Weibchen in der Wörnitzstadt als in den vergangenen vier Jahren. Dieses beringte Weibchen siedelte ins oben schon angesprochene Nest nach Weiltingen um. Dort erbrütete es mit einem unberingten Männchen drei Junge, von denen ebenfalls eines (wie in Dinkelsbühl) im Alter von gut 18 Tagen tot aus dem Nest befördert wurde. Mittlerweile stehen die beiden Jungen dort kurz vor dem Ausfliegen. Während ihrer Zeit in Dinkelsbühl brachte es die Storchendame in vier Jahren immerhin auf vier verschiedene Männer. Da soll noch einmal einer von ewiger Storchentreue reden. Die gibt es zwar auch, aber häufiger Partnerwechsel ist bei "Storchens" halt auch keine Seltenheit. (Ähnlichkeiten mit menschlichen Verhältnissen sind rein zufällig).
Derartige Vorfälle stehen dann immer in Zusammenhang mit größeren Katastrophen, die sich keiner für das Dinkelsbühler Nest wünschen mag. Zu erwähnen, weil schon passiert, wäre der Brand des Horstgebäudes, Blitzeinschlag ins Nest Vergiftung der gesamten Storchenfamilie oder ein Hagelunwetter mit riesigen Hagelkörnern. Die eigentlichen Gefahren beginnen jedoch immer erst mit Erreichen der Flugfähigkeit. Jeder erste Abflug der Jungen vom Nest wird zwangsläufig weniger elegant vor sich gehen als der der erfahrenen Elterntiere, die im Laufe der Nestlingszeit einige hundert Male den An- und Abflug trainiert und jede thermische Besonderheit der Flugstrecke verinnerlicht haben. Bei Ludwig und Sissi wird der erste Ausflug wahrscheinlich in eine Runde um das Nest münden. Sollte dabei der Landeplatz verfehlt werden (Punktlandungen sind nun mal fliegerische Sonderfälle, die Erfahrung voraussetzen), wird noch einmal gedreht oder ein anderer hoher Punkt in der Nähe angesteuert. Treten auch dort Schwierigkeiten auf, ist schon einmal ein gebremster "Absturz" möglich, der jedoch in den meisten Fällen ein mehr oder weniger sanftes Abrutschen über ein Dach zur Folge hat. In der verwinkelten Altstadt Dinkelsbühls mit einem dichten Gewirr von Dächern gäbe es für unsere "Jungfernflieger" viele Möglichkeiten des Absturzes. Von den 11 Jungstörchen, die seit der Wiederbesiedelung des Altrathausnestes vor acht Jahren dieses verlassen haben, ist - soweit bekannt - keiner im Nahbereich um das Nest verunglückt. Passiert ein solches Malheur doch einmal ist Ruhe die erste Bürgerpflicht. Da Jungstörche zwischen Häusern kaum einen Startversuch wagen, ist es ratsam, den Pechvogel ohne Hektik und Aufregung aus dem dichtesten Stadtbereich zu treiben. Kann man ihn sogar einfangen, kann er - Vorsicht vor dem dolchartigen Schnabel - auf eine Wiese vor dem Ort gesetzt und dann wieder alleine gelassen werden. Er wird eine der nächsten Gelegenheiten nützen, von dort einen erneuten Startversuch zu unternehmen. Wagt der erste "Ausflügler" schon eine weitere Flugstrecke, endet diese meist auf einer horstnahen Wiese. Meist gesellt sich ein Altstorch dazu und begleitet sein Junges. Häufig sieht man auch die gesamte Familie vereint zusammen bei der Nahrungssuche. Da Junge auch bei dieser Tätigkeit erst Erfahrungen sammeln müssen, werden sie nach dem Ausfliegen weiter zusätzlich von beiden Altstörchen gefüttert. Meist erfolgen diese Fütterungen weiterhin im Nest, gelegentlich - vor allem wenn die Jungstörche sehr hungrig sind und intensiv betteln - wird auch im Nahrungsrevier der Futtervorrat auf die Wiese gewürgt und von den Jungen verspeist. Momentan kann bei den Fütterungen im Nest - vorausgesetzt man hat das Glück, eine solche über die Webcam zu verfolgen - das fast schon aggressive Bettelverhalten der Jungen beobachtet werden. Dabei wird heftigst nach dem Schnabel der Altstörche gepickt und dieser dadurch aufgefordert, seinen Mageninhalt auszuwürgen. Dabei stecken die Jungen schon einmal ihren Schnabel ein Stück in den des Elterntieres, um ja als erster - schon beim Herausgleiten der Beute aus der Speiseröhre - "zur Stelle" zu sein.
Mit der Hitze steigt auch der Wasserbedarf der Jungen erheblich an. Wird im Normalfall der Flüssigkeitsbedarf durch die eingetragenen Beutetiere gedeckt, reicht in Hitzeperioden dies nicht immer aus, das heißt die Jungen entwickeln regelrecht Durst. In den südeuropäischen und nordafrikanischen Brutgebieten unserer Weißstörche spielen höhere Lufttemperaturen eine noch viel bedeutendere Rolle und somit ist der Flüssigkeitsbedarf dort noch viel größer. Somit ist das Vorhandensein einer während des gesamten Sommers zur Verfügung stehenden Wasserstelle innerhalb des Nahrungsgebietes ein limitierender Faktor für das Brüten eines Storchenpaares. Für das
Dinkelsbühler Storchenpaar bedeutet es kein Problem, die Jungen mit Wasser zu versorgen. Ein solcher
Wassertransport geschieht in etwa nach folgendem Muster.
Unterscheiden sich die Geschlechter schon rein äußerlich, genügt natürlich der bloße Augenschein. Nun gibt es eine große Zahl von Fällen - und der unsrige gehört auch dazu - bei denen sich die Geschlechter gleichen und mit dem Auge kaum ein Unterschied feststellbar ist. Hier ist man dann auf biologische Verhaltensweisen angewiesen. (Singt der Vogel, verteidigt er ein Revier u.Ä.) Bekommt man den Vogel in die Hand, ist die ganze Angelegenheit wesentlich einfacher. Begattungsorgane sind bei Vögeln nur selten ausgebildet. Bei den meisten Vogelarten (auch beim Storch) ist ein penisähnliches Organ nicht (mehr) vorhanden. Bei einigen Vögeln (Hühner, Enten, Strauße) sind mehr oder weniger große Rudimente eines Penis vorhanden und können ertastet oder mit bloßem Auge gesehen (Strauß) werden. Kann man in anderen Fällen zur Geschlechtsbestimmung eine Blutprobe nehmen oder sich eine Feder oder einen anderen Bestandteil des Vogelkörpers sichern. ist die Sache schon ein bisschen aufwändiger. Mit diesen individuell zuzuordnenden Materialien lässt sich dann eine Genanalyse vornehmen, die schließlich auch eine 100%ige Geschlechtsbestimmung erlaubt. Doch Vorsicht! Bei Vögeln besitzen im Gegensatz zu den Säugern (und damit auch im Gegensatz zu den Menschen) die Männchen die paarigen Geschlechtschromosomen xx, während die Weibchen die Ausführung xy verkörpern. Das bedeutet, dass das Geschlecht der "Storchenkinder" von der Eizelle bestimmt wird und nicht wie bei den Säugern vom Spermium. (Wer sich tiefer in alle ornithologischen Geheimnisse begeben will, sei folgendes
Buch wärmstens empfohlen. Es ist für den völligen Laien vielleicht in Teilen schwer
vedaubar, aber jeder Laie ist in der Lage, dabei etwas für sich zu lernen:
Und auch die beiden Elterntiere gehen nach dem Abflug meist getrennte Wege. Und irgendwann gegen Ende August wird dann das Nest bei Einbruch der Dunkelheit wieder verwaist sein - ein sicheres Zeichen, dass die Storchenfamilie abgezogen ist. Anfangs kehren die Jungen nach ihren ersten Ausflügen regelmäßig zum Nest zurück und sind auch tagsüber für lange Zeit im Nest vorzufinden. Im Laufe der folgenden Tage werden die Nestbesuche immer seltener, aber zum Übernachten wird jeweils das Nest aufgesucht. Die beiden Altstörche ihrerseits verbringen die Nachtstunden - solange die Jungen noch nicht abgeflogen sind - stets auf einem erhöhten Standplatz in der näheren Umgebung des Horstes. Kehren die Jungen abends nicht mehr in ihre "Kinderstube" zurück, ist ihr Abzug aus Dinkelsbühl vollzogen. Meist wandert der Nachwuchs gemeinsam ab. Von da an suchen die beiden Elterntiere wieder regelmäßig ihr Nest auf, zum Übernachten sind sie vom Abzug der "Kinder" an auf alle Fälle dort anzutreffen. Macht sich der erste Partner auf die weite Reise, bleibt nachts sein Platz im Nest leer. Verschwindet auch der zweite Altstorch, wartet man am Abend vergeblich auf seine Rückkehr und das Nest wird erstmals nach fünf Monaten verlassen sein. Wohin die Reise führt, wird später noch ausführlich erörtert werden. Dieses Übernachtungsverhalten ist übrigens auch eine Kontrollinstanz für den Fall, dass während der Brut oder Aufzuchtzeit der Jungen ein Altstorch verunglückt. Da diese Fälle in Bayern bei etwa 120 Storchenpaaren leider alljährlich durchschnittlich drei- bis viermal vorkommen, sind die Horstbetreuer in Verdachtsfällen angehalten, nach Einbruch der Dunkelheit das Nest, die Dächer, Kamine und andere Standquartiere nach den übernachtenden Altstörchen zu überprüfen. Wird bei diesen Kontrollen ein Altstorch vermisst, muss mit dem Schlimmsten gerechnet werden. Kommen auch weitere Nachforschungen zu keinem anderen Ergebnis, können dann weitere Maßnahmen eingeleitet werden. Auch Störche, die kein Nest besitzen - zum Beispiel solche, die während des Sommers Junggesellentrupps bilden und selbst noch nicht die Geschlechtreife erreicht haben - fliegen zum Übernachten einen erhöhten Platz an, der die Gewähr gibt, nicht während der Ruhe- und Schlafphase von einem Raubsäuger (z.B. Fuchs) überrascht zu werden. Solche Mitglieder von Storchentrupps übernachten beispielsweise gerne auf Bäumen oder Strommasten. Erfolgen Übernachtungen auf dem Boden, kann fast immer mit einer Verletzung des betreffenden Storches gerechnet werden.
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